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Transformation

12. Juli  —  31. August 2024

Zyklus «Wandel II» 2023 — 2025

Musique & Famille

Der Lebensgemeinschaft „Familie“ haben wir höchstwahrscheinlich die Gründung des Gstaad Menuhin Festivals vor 60 Jahren zu verdanken. Die Menuhins suchten in den 1950-er-Jahren eine Sommer-Residenz, wo sich der durch Reisen und Konzerte belastete Jahrhundert-Geiger entspannen konnte und wo die Kinder eine Möglichkeit fanden, eine internationale Schule zu besuchen und ihrerseits Ruhe und Abwechslung in wohltuender Atmosphäre finden sollten. Ihre Wahl fiel auf Gstaad. Die Familie liess sich vorerst für Urlaub in Gstaad nieder, entschied sich danach, ein Chalet erbauen zu lassen, ehe Yehudi Menuhin im Jahr 1957 erstmals in der Kirche Saanen zwei Konzerte gab, gemeinsam mit Benjamin Britten am Klavier. Das Gstaad Menuhin Festival war geboren.  Dass sich im selben Jahr 2016, das sechzigste Festival und der hundertste Geburtstag jähren, ist vielleicht gar nicht ein so grosser Zufall: Menuhin suchte mit 40 Jahren nach Ruhe und Gelassenheit, die ihm zuvor durch sein Leben als Wunderkind und Jungstar und durch die Wirren des 2. Weltkrieges nicht gegeben waren.  
Wir blicken mit einem Konzertabend (doppelt geführt), dem Menuhin-Gedenkkonzert mit Mozarts Requiem, zurück, denken an Yehudi Menuhin und sein nachhaltiges Vermächtnis. Die Ausrichtung des Festivals 2016 lebt aber vom Blick nach vorne und davon, was Menuhins Botschaften uns heute weisen können: In einem im ganzen Kanton Bern angelegten Kinder- und Jugendprojekt „Beethoven4all“ zum Beispiel, das sich über eine Zeitspanne von neun Monaten erstreckt; in unserer Gstaad-Academy mit ihren fünf teils sehr exklusiven Sparten, in den vielen Konzerten mit jungen Preisträgern und thematischen Konzerten, in welchen wir auch die Grundsatzfrage über Wunderkinder und Musikwettbewerbe stellen und natürlich in den zahlreichen Hommagen an Yehudi Menuhin durch renommierte Musiker-Persönlichkeiten.  
Die Familie – sie ist die natürlichste und älteste Schicksalsgemeinschaft. Man kann sich deren Mitglieder nicht aussuchen, sondern wird hineingeboren, mit Genen ausgestattet und durch Erziehung und Zusammenleben geprägt. Die Familienmitglieder sind jene Menschen, die uns durch alle Höhen und Tiefen des Lebens hindurch am nächsten stehen. Diese zwischenmenschlichen Beziehungen sind aber auch sehr anfällig für konfliktbeladene Auseinandersetzungen, psychologische Ungleichgewichte oder strapazierte pädagogische Prozesse.  Die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, unter Geschwistern und unter Ehepartnern sind voll von Projektionen, oft Zwängen, Rivalitäten oder Unterdrückung. Aber sie können auch grosse Energien freisetzen, Dynamisierungen auslösen, Motivation bedeuten, Inspiration auslösen, doch normalerweise sind sie vor allem geprägt von Verständnis und Vertrauen.  
Die  Familien Bach, Mozart, Mendelssohn, Schumann oder Strauss sind unterschiedliche Beispiele, wie mit erblichen Anlagen im musikalischen Feld umgegangen worden ist. Johann Sebastian Bach war das Zentrum einer über viele Generationen hinweg tätigen Dynastie von Musikern mit dem Namen Bach. Sie reichte vom späten Mittelalter bis in die Frühklassik mit den Söhnen Carl Philipp Emmanuel und Johann Christian Bach. Die Bachs waren normalerweise Kirchenmusiker, die sich teils auch über Vetternwirtschaft ganz selbstverständlich von Generation zu Generation die Ämter gegenseitig weiter vermittelt haben. Die Dynastie ist jedoch ohne Zweifel ein Phänomen in der Hinsicht, dass tatsächlich vorhandene Erbanlagen dafür sorgten, dass jeder der tätigen Bachs einen Schuss Genialität in sich trug. Leopold Mozarts Zur-Schau-Stellen seines genialen Sohnes bereits im zarten Kindesalter hat dem grössten Tonschöpfer aller Zeiten wohl die Energien für ein längeres Leben schon sehr früh geraubt. Die Projektion des Vaters auf den Sohn Wolfgang und sein Wille, aus ihm einen berühmten Musiker zu machen, der er selber nicht war, können als Ursprung des Drills betrachtet werden. Dennoch war es Leopold, der durch eine konsequente, klare pädagogische Ausbildung seiner Kinder (Leopold verfasste eine Violin-Schule „Der Versuch einer gründlichen Violinschule“) erreichte, dass sie sehr früh instrumental-technisch auf höchstem Niveau spielten und jene Generation im späteren 18. Jahrhundert zu einem Ausbildungsprogramm für Streichinstrumente kam. Die Mozarts oder später die Mendelssohn-Geschwister galten als musikalische Wunderkinder. Neben ausserordentlichen instrumental-technischen Fähigkeiten traten sie bereits mit zwölf Jahren als Komponisten auf. In den gutbürgerlichen Verhältnissen der Familien Mendelssohn galt jeweils gesichert, dass der junge Felix bereits mit zwölf Jahren seine frühen Kompositionen in durch die Familie organisierten Hauskonzerten vorführen durfte, so auch sein Doppelkonzert für Violine und Klavier oder verschiedene Klavierstücke, die er mit seiner Schwester Fanny Mendelssohn in solchen Konzerten der Familie uraufführte. Vater Mozart reiste mit seinen Kindern „um die Welt“, um deren Wunderkinder-Status den Fürsten und Königshäusern richtiggehend „vorzuführen“. Die geschwisterlichen Schicksalsgemeinschaften unter den Mozart- oder Mendelssohn-Kindern verband die beiden sehr früh in blindem musikalischem Zusammenspiel. Aus dieser Verbundenheit entstanden einige wunderbare Frühwerke, und das Verständnis für Zusammenspiel und Faszination der Kammermusik wurde geweckt. 
Ehe- und Lebenspartnerschaften hingegen stehen unter anderen Vorzeichen: hier sind oft die Rollen von Musen und Schöpfer vorgegeben oder jedenfalls gewünscht. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die Rollen meist klar verteilt: Der Mann war der geniale Schöpfer und die Frau seine Muse, die sich gleich noch um Kinder und Haushalt zu kümmern hatte. Robert Schumann kam mit dem überbordenden Talent von Clara Schumann-Wieck nicht zurecht, und sie unterdrückte ihr Begehren nach kreativer Umsetzung während Jahren. Gustav Mahler verlangte von Alma geradezu eine bedingungslose Hingabe an ihn, was aber dazu führte, dass Alma bei vielen Werken als kreative Assistentin mitwirkte, sich schliesslich aber von ihm abwandte, woran Gustav Mahler zu Grunde ging. Fanny Mendelssohns Karriere als Musikerin wurde ihr von der Familie verwehrt zugunsten des Ehelebens mit Wilhelm Hensel. Und Nannerl Mozart war eine virtuose Pianistin, die aber zeitlebens nie eine Chance erhielt, aus dem Schatten ihres Bruders zu treten. Die Problematik der Rollenverteilung scheint im 21. Jahrhundert zumindest in unserem kulturellen Umfeld überwunden zu sein. Doch bleibt ein Nachgeschmack beim Gedanken, was wohl aus all diesen weiblichen Hochbegabungen geworden wäre, wenn sie auch gefördert worden wären. Denn diese Erkenntnis ist gewiss: Eine Hochbegabung muss wie eine Pflanze gepflegt und gehegt werden, und dazu scheint die Familie heute wie gestern das beste Umfeld zu bieten.  
Die Fragen bleiben:  Welchen Anteil an Resultaten von schöpferischen Prozessen stellen angeborenes Talent, Fleiss, Erziehung, Umfeld, Inspiration durch Liebe, Bewunderung, Vorbildfunktion oder gar Vetternwirtschaft dar?  Oder hängt musikalische Schöpfung am Ende doch nur an Charaktereigenschaften und Charisma und bleibt die Familie eine blosse Zweckgemeinschaft?  
In Bachs Kaffeekantate BWV 211 beklagt sich der lamentierende Vater „Hat man doch mit seinen Kindern hunderttausend hunderttausend Hudelei“..! Auch bei den Bachs und Mozarts gab es Hauskonzerte, wie wir sie rekonstruieren, die immer teils Vergnügen und teils Demonstration darstellten. Die Musik der Dynastie der Familie Strauss mit Johann Strauss junior und senior und den Geschwistern und den Onkeln Eduard und Josef  bildet den idealen Rahmen für unser Geburtstagskonzert „Happy Happy Birthday, Menuhin“, in welchem eine grosse Familie von Geigern aus allen musikalischen Welten zusammen kommt.
Überhaupt spielen genetische Familienbande und musikalisch zu Familien zusammengewachsene Menschen die Hauptrollen beim Gstaad Menuhin Festival 2016. Geschwister-Ensembles, Zwei-Generationen-Formationen, Eltern und Kinder lassen uns an ihrem durch Nähe und Intimität geprägtes musikalisches Selbstverständnis teilhaben und damit an die Keimzelle des Gstaad Menuhin Festivals erinnern: Die Familie als Ursprung aller schöpferischenTätigkeit, ja sogar des Lebensrhythmus.  
Wir heissen Sie zum Gstaad Menuhin Festival 2016 herzlich willkommen, alleine oder mit Ihrer ganzen Familie!